Manfred Züfle

Revolution – Pädagogik?

Pädagogik – Revolution?

Am zweiten diesjährigen Ragaz-Abend hat Manfred Züfle „Die Pädagogische Revolution“ gleichsam im aktuellen Kontext fortgeschrieben. Der Autor fragt zunächst nach dem Verhältnis von Pädagogik und Revolution bei den Vorläufern von Ragaz, insbesondere bei Pestalozzi, der im „Durchhalten der Wahrheit“ auch während Zeiten der Reaktion beispielhaft voranging. Unser Freund selbst begegnet der Frage, ob Pädagogik zur Revolution beitragen kann, mit einiger Skepsis. Mit Blick auf Ragaz‘ Biographie meint er: „Wer vom Zürichberg aus 1919 an das erinnerte, was sich unten beim Volkshaus vor kurzem zugetragen hatte, musste vom erhabenen Hügel letztlich ins Aussersihl, wo der Klassenfeind ante portas stand, hinuntersteigen.“ Was heute not tut, sind „neue Analysen für Widerstand und Revolution“, die vor allem in Paulo Freires „Pädagogik der Unterdrückten“ und in Ivan Illichs „Entschulung der Gesellschaft“ wichtige Wegbereiter gefunden haben. Einmal mehr versucht die herrschende Ökonomie die Menschen zu systemkonformen Verhalten, zu „Menschenmaterial“ zu erziehen. So könnten sozialer und pädagogischer Widerstand doch wieder miteinander zutun haben. Red.

 

Eine notwendige Vorbemerkung

Ich kenne mich im Gesamtwerk von Leonhard Ragaz nicht so gut aus wie Willy Spieler und bin deshalb froh, dass er am letzten Abend die Pädagogische Revolution in ihrer mehrfältigen Dialektik schon so ausgeleuchtet hat, dass wir als Zuhörerinnen und Zuhörer verstehen konnten, wie für Ragaz das Soziale und das Pädagogische im geschichtlichen Kontext jener Jahre nach dem Landesstreik sich gegenseitig und unheilvoll bedingten, in jener aufgebrochenen und unruhigen Zeit, in der nach der vorläufigen Unterdrückung einer sozialen Revolution, Ragaz sich schon bald entscheiden wird, seine Stellung an der Universität, an der bürgerlichen Hochburg der von ihm kritisierten Bildung oder eben Un-Bildung, zu verlassen, um als der prophetische Geist, der er war, in ganz anderen Feldern zu wirken. Ich kenne die zwei anderen prophetischen Gestalten der Schweizer Geschichte besser als Ragaz; ich meine Bruder Klaus und Pestalozzi.

So habe ich nun eine gewisse Freiheit, die beiden Titelfragen meines Referats gleichsam persönlich anzugehen mit den Erfahrungen im Hintergrund (oder Hinterhalt!), die ich in langen Jahren selbst in der „pädagogischen Provinz“ machen konnte und machen musste. Die Titelfrage ist bewusst doppelt gestellt – mit einer Umkehrung der beiden Bestandteile des in Frage Stehenden. Es ist nämlich mehr als fraglich, ob Pädagogik überhaupt etwas mit Revolution zu tun hat, je zu tun gehabt hat, und, wenn, ob eine richtige Pädagogik allenfalls zu einer Revolution der Verhältnisse führen könnte oder ob umgekehrt erst eine Revolution der Verhältnisse endlich eine gute Pädagogik ermöglichen würde. Ernesto Cardenal hat in einem Gedicht nach der Revolution in Nicaragua einmal festgestellt, erst durch die Revolution könnten endlich in seinem Land die Papageien Papageien sein. Aber das ist ein anderer Aspekt der Wirksamkeit von Revolutionen.

 

Pestalozzi – ein Bürger der Französischen Revolution

Bekanntlich war Pestalozzi ein Bürger, Citoyen, der Französischen Revolution. Die Nationalversammlung hatte Menschen in aller Welt, die die Ideen der Revolution vorbereitet, in ihrem Denken und Handeln vorweggenommen hatten, mit dem Bürgerrecht ausgezeichnet. Aus dem deutschsprachigen Bereich widerfuhr diese Ehre z.B. Schiller, Klopstock, Hölderlin und eben auch Pestalozzi. Schiller hatte, zum Klassiker avanciert, dann mit der Zeit etwas Mühe mit dieser Auszeichnung. Der Dichter Klopstock sah nie Grund, sich zu distanzieren, weil für ihn Dichtung selbst eine revolutionäre Sache war, und der würdigste und wichtigste Nachfolger in dieser Kulturtradition, Hölderlin, verstand sich als süddeutscher Jakobiner bis zu seinem sog. Zusammenbruch von 1806 und wahrscheinlich bis zu seinem Tod. Der junge Pestalozzi gehörte zum Kreis um den „Vater der Jünglinge“, wie Goethe Johann Jakob Bodmer nannte. Er hat sich selbst gegeißelt, um bei Einvernahmen durch die gnädigen Herren in Zürich, zu deren Mitteln durchaus die Folter gehörte, standfest zu sein. Und dieser Pestalozzi hat die ihm durch Stapfer vermittelte Möglichkeit zu einem kühnen pädagogischen Experiment in der jungen Helvetik ergriffen, um seine in Theorie und Praxis entwickelte Pädagogik in einer „Stunde Null des Elends“ zu realisieren. Ich habe das in meinem Buch hast noch Söhne ja im geschichtlichen Kontext ziemlich breit dargestellt. „Stunde Null des Elends“: Das Schul- und Pädagogik-Experiment in Stans arbeitete mit Kindern und Jugendlichen, zudem im katholischen Feindesland, um sie aus der absoluten Verwahrlosung heraus zu Menschen heranzubilden. Pestalozzi hat davon in seinem vielleicht wichtigsten Buch, im Stanser Brief, ein bis heute erschütterndes Zeugnis hinterlassen. Das Experiment wurde durch die und in den Wirren der Zeit zwar abgebrochen; der Ort von Pestalozzis Wirken wurde für ein Lazarett für verwundete französische Soldaten gebraucht. Aber auch der alte Pestalozzi, in seiner berühmten Burgdorfer Rede kurz vor seinem Tod, in wieder düsterst reaktionären Zeiten, sah immer noch keinen Grund, seine zutiefst revolutionäre Sicht der Geschichte seiner Zeit zu revidieren. Gerade im Durchhalten der „Wahrheit“, auf die Ragaz ja immer wieder pocht, auch im scheinbaren historischen Scheitern, sind gleichsam biographische Parallelen zwischen Pestalozzi und Ragaz unübersehbar. Und wenn man den Bogen weiterspannte, sähe man beim vielleicht bedeutendsten von allen, bei Bruder Klaus, dass ein prophetisch-existenzieller Gestus in einer je geschichtlichen Zeit von den Zeitläuften nicht zum Verschwinden gebracht werden kann, sondern als deren „Wahrheit“ erscheint.

 

Pädagogik kann mit Revolution zu tun haben

Offensichtlich kann Pädagogik in bestimmten geschichtlichen Situationen auch mit Revolution zu tun haben, weil sie unausweichlich mit dem Feld des Politischen in Berührung steht, hat sie doch so oder so, von revolutionär bis reaktionär, einen Anspruch, Heranwachsende für eine „Gemeinschaft“, um hier den für Ragaz so wichtigen Begriff zu brauchen, wie auch immer geeignet zu machen.

Das kann dann – wie etwa bei Rousseau – auch heißen, dass die bestehende Gesellschaft für den Zögling, seinen Emil, so ungeeignet ist, dass sie seine menschliche „Natur“ nur korrumpieren würde, und das heißt, dass vom Zögling die real existierende Gesellschaft fürs erste mal fern gehalten werden soll und dass in der Folge die Gesellschaft selbst zu ihrem ursprünglichen Kontrakt zurück-geführt werden müsste. Bei Rousseau sind Pädagogik, Politik und ursprünglicher Gesellschaftsvertrag gleichsam eng geführt im Namen eines aufklärerischen Menschheitsideals. Dieser im besten Sinne idealen und idealistischen Engführung begegnet man spätestens seit Rousseau in fast allen großen pädagogischenEntwürfen, bei Pestalozzi oder Wilhelm von Humboldt, aber auch noch in einem vielleicht manchmal etwas befremdlichen Pathos in Ragaz‘ Pädagogischer Revolution.

Pädagogik ist jedoch schon in ihrem Namen und Begriff, wie er erst im 18.Jahrhundert allgemein mit einem Rückgriff auf Platon gebräulich wurde, eine Wissenschaft, die zum Handeln anzuleiten mindestens vorgibt; das ist noch in den rigidesten didaktischen und methodischen Anleitungen durchzuspüren – bis heute. Darum vielleicht hat jedes pädagogische Projekt in sich schon die Tendenz, in Verordnungen, Schulordnungen, Disziplinen, Schulgesetzen und Reformverordnungen, immer von neuem wieder den Verhältnissen so auch nachhechelnd, entweder zu erstarren oder schlicht zu verstauben.

Wer vierzig Jahre lang wie ich auch in der sog. pädagogischen Provinz tätig und mitarbeitend an x „Reformen“ war, ist allen Reformen gegenüber einmal prinzipiell skeptisch gestimmt. Das heißt, ich weiß einerseits, und zwar aus pädagogischer Erfahrung, dass alle Pädagogik immer und je schon vermittelt ist mit dem jeweils auch schlechten Zustand einer Gesellschaft. Ich weiß dass, wenn ich als Pädagoge ehrlich bin, weil ich sehe, in was für eine Welt ich die sogenannten Zöglinge zu weisen habe. In diesem Sinne müsste ich gerade als Pädagoge revolutionär sein – oder resignieren in meinem Geschäft, wenn ich nicht schon längst zu sehr aufgefallen wäre und von den Institutionen, in denen ich arbeitete, gegangen worden wäre.

Ich finde es typisch, mindestens in keiner Weise zufällig, dass ein Ragaz, nachdem er die Pädagogische Revolution an der Universität, an der er angestellt gewesen war, vorgetragen hatte, diese Institution verließ. Wer vom Zürichberg aus 1919 an das erinnerte, was sich unten beim Volkshaus vor kurzem zugetragen hatte, musste vom erhabenen Hügel letztlich ins Aussersihl, wo der Klassenfeindante portas stand, hinuntersteigen. Andererseits weiß gerade der ehrliche Pädagoge vielleicht am existenziellsten und subjektivsten, um auch hier auf zwei Begriffe Ragaz‘ und des von ihm geliebten Kierkegaard anzuspielen, dass die Revolution der Gesellschaft immer noch und immer aussteht und dass sie nicht und durch keine noch so schöne Reform von der Pädagogik, mindestens nicht allein von der Pädagogik, nachgeliefert wird. Ein Ragaz hat dabei die Gewissheit des „Reiches Gottes“, das ja für den Gläubigen auch immer im Kommensein wird und muss, im Hintergrund (fast hätte ich gesagt, im Hinterhalt).Wenn ich autobiographisch an meinen langsam abebbenden furor paedagogicus mich zurückerinnere, sehe ich freilich, dass es auch typisch und keineswegs zufällig war, dass ich nach der Jugendrevolte von 1980 freiwillig und unter regierungsrätlicher Verdankung der geleisteten Dienste Abschied nahm von diesen Diensten an einer gesetzlich geregelten Institution. Ich führte damals ein Projekt meiner verstorbenen Frau Astrid weiter. Sie hatte als sehr engagierte Lehrerin an einer Zürcher Kantonsschule scharf registriert, wo nach durchgeführter Repression der Jugendrevolte, die damals im Namen einer anderen Kultur Revoltierten landen sollten und auch scharenweise landeten, in Kliniken, im Drogenelend oder sonst an einem Rand. Das gute Dutzend Jugendlicher in Astrids Projekt gab sich selbst den Namen ALG, Autonome Lerngruppe und machte – im nachhinein gleichsam – deutlich, was die jungen Menschen sich nicht nehmen ließen:

Das Lernen erstens und dass sie trotz und gegen alle Zwänge einer staatlichen Maturitätsverordnung mitbestimmen wollten, was das Lernen sein sollte, und wie es in einer Gruppe eingerichtet wurde. Zweitens, dass sie das, was man ihnen mit dem disziplinarischen Rausschmiss aus Gymnasien wegnehmen wollte, sich selbst holen würden, die Matur, die eidgenössische, wie sie so schön heißt. Und drittens, dass in einer selbstbestimmten Nische zu retten war, hinüberzuretten, wofür sie auf den Strasse demonstriert und gekämpft hatten, eine andere gesellschaftliche Kultur. Die holten sich das je auf eigene autonome Weise und blieben mindestens keine „Kulturleichen“ dieser Stadt. Viertens aber waren sie – wie Astrid und ich von Anfang an – radikal der Meinung, dass aus diesem Experiment auch in einer Stunde Null nicht eine Reforminstitution entstehen solle, die einfach weitergeführt werden könne. Statt dessen schrieben sie ein Buch (das wahrscheinlich nicht mehr zu haben ist) mit einem schönen Titel Nicht mit Schafen und eigenem Korn. Darin haben sie, schön chaotisch und autonom oder eben existenziell im Sinne von Ragaz und Kierkegaard, später vielleicht wiedereinmal brauchbare reflektierte Erfahrung mit den Verhältnissen aufzubewahren versucht.

 

Not tut die Analyse der Pädagogik in den Verhältnissen

Ragaz‘ Vorlesungsreihe Die pädagogische Revolution macht in ihrem Aufbauklar, dass er das in seiner Zeit und für seine Zeit genau so sah. Die ganzen ersten drei Vorlesungen bilden die Analyse des immanenten Zerfalls eines „Systems“, stellen dar, was wir heute mit einem etwas modischen Begriff eine „Dekonstruktion“ nennen würden. Es ist interessant, wie sehr sich Ragaz seines Vorgehens bewusst war. Am Anfang der vierten und doch wohl zentralen Vorlesung über die gleich mehrfach anstehende Revolution blickt er auf die vorgebrachte Kritik zurück und sagt, was sie bedeutete: „Wir wollen weder die Einrichtung völlig verurteilen, noch gar den Menschen, die in diesem System arbeiteten, den persönlichen Wert oder den ihrer Arbeit bestreiten. Wir haben bloß das System angegriffen und dieses freilich mit äußerster Schärfe“ (S. 57). Dieser Ansatz der Ragazschen Analyse bleibt „unabgegolten“ revolutionär, um einen Ausdruck Ernst Blochs zu brauchen.

Die Kritik ist die Dekonstruktion, die analytische Destruktion von etwas, das systematisch am Zerfallen ist, es geht um das Zerfallen einer ganzen Kultur, einer ganzen Bildung, einer ganzen Pädagogik, eines ganzen „Systems“ – das nicht irgendwann sich als Zerfallendes zeigt, sondern in der Zeit nach der eben vorangegangen Menschheitskatastrophe des Ersten Weltkriegs. Gerade darin ist Ragaz radikal zeitgenössisch in seiner Zeit und mit den schärfsten Köpfen, die aus sehr anderen Horizonten herkommen und denken, einig im Befund: Die Menschheit hatte mit dem Ersten Weltkrieg ihre eigene Katastrophe erlebt und gesehen.  Man könnte Freuds kulturtheoretische Schriften anstelle von vielen anderen nennen, obwohl Freuds und Ragaz‘ Vorstellungen von der Wahrheit des Menschen sehr weit auseinander zu liegen scheinen. Ich betone das so stark, weil natürlich auch die Ragazsche Kritik des Zerfallenden durch ihren Gegenstand zeitbedingt ist und damit historisch, wenn auch historisch interessant. Aber nicht nur in der Analyse ist Ragaz zeitbedingt zeitgenössisch, sondern auch in den Perspektiven, die er entwickelt, die damals Sinn machten, d.h. unmittelbar Verständnis oder auch Ablehnung hervorriefen. Die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren auch die Zeit der großen Würfe und Entwürfe, von

Barth bis Bloch gleichsam, allerdings auch bis zu Martin Heideggers Sein und Zeit, das auf seine Art auch die große Destruktion (ein Ausdruck Heideggers!) anzettelte und sehr schnell in die Nähe geriet der nächsten und noch schrecklicheren Katastrophe der Menschheit. Mit anderen Worten: Ragaz‘ Pädagogische Revolution ist darin interessant, dass er es, und zwar in der Öffentlichkeit einer Universitätsvorlesung, überhaupt wagte, da, im ganzen Wesen und Unwesen der Pädagogik, eine unabdinglich notwendig Revolution angesagt zu sehen. Über viele Einzelheiten mag man staunen oder den Kopf schütteln von heute aus. Vielleicht eignet sich Ragaz ja deswegen meiner Meinung nach wenig als Kirchenvater, weil er eben prophetisch weiß, dass Kirche und Religion überhaupt selbst am Zerfallen sind. In der Sprache des Ragazschen Glaubens des Reiches Gottes liest sich das dann etwa so: „Auch die Religion, und sie erst recht, war von Gott abgefallen“ (S. 63)!

Sie merken vielleicht, was mich insgeheim umtreibt während meines ganzen Referats – und ich meine fast, Ragaz selbst hätte allenfalls Verständnis dafür. Ich gestehe, selbst Ragaz‘ zentraler Begriff vom „Reich Gottes“, der in seinem theologisch revolutionären Sinne ja alle Religion ent- und ersetzt, macht mich, wenn er gleichsam zu gebraucht ist, bockig, bockig nicht im historischen Verstehen der Ragazschen Texte, sondern bockig darin, dass ich mich heute frage, was erklärt die Verwendung einer in sich großen Ragazschen Formulierung heute wem? Vielleicht ist Gott ja denen, die am „brennendsten“ wissen, „was uns fehlt“, wie Ragaz es formuliert, nach den Katastrophen des ganzen 20. Jahrhunderts noch einmal so viel ferner, dass eine Scheu besteht, Ihn überhaupt noch ins Spiel zu bringen. Ich will nicht pathetisch werden und sage einfach: Ich brauche neue Analysen für Widerstand und Revolution!

Ich erinnere mich, Paulo Freire einmal in einem Vortrag oder auf einem Podium, ich meine, es sei in der Roten Fabrik gewesen, gehört zu haben. Freires revolutionär pädagogisches Alphabetisierungs-Projekt war damals schon gescheitert – an der brutalen Repression und der Ausweisung Freires aus seinem Arbeitsfeld, in dem die damaligen Machthaber eine „pädagogische Revolution“ im Entstehen befürchteten. Ich erinnere mich genau, wie mich beeindruckte, mit welcher Überzeugungskraft dieser durch die Macht zum praktischen Scheitern Verdammte an seiner Theorie und Praxis festhielt.

Die von Freire selbst autorisierte Übersetzung seiner Gedanken trägt den Titel Pädagogik der Unterdrückten, und genau diese Formulierung hatte etwas Neues im Feld der in Lateinamerika anstehenden Revolution fokussiert: „die Unterdrückten“. Das sind nicht die in einem Krieg verwahrlosten Kinder Pestalozzis, auch nicht die Sinn suchenden Studenten, die Ragaz unter dem Hinweis auf die soziale Frage anspricht, schon gar kein Roussauescher Emil, den es vor der Korruptheit einer spät-absolutistischen Welt in den letzten Zügen zu bewahren gilt, das sind die, die dank der Freireschen Pädagogik der Alphabetisierung gerade zu verstehen anfingen, dass sie mit der Kenntnis der Sprache der Herrschenden auch an die hoch konkrete Veränderung ihrer beherrschten Verhältnisse zu denken beginnen konnten. Und ich habe Jahre später in Costa Rica in dem Institut, an dem Franz Hinkelammert arbeitet, erleben können, wie auch heute noch das von Freire Entworfene in widerständige Praxis übersetzt wird. Ich habe darüber einmal in den Neuen Wegen berichtet.

Ich habe jetzt wieder in der Pädagogik der Unterdrückten herumgelesen und staunte über nicht wenige Sätze, die ich mir damals in den früher 70er Jahren angestrichen hatte. Ich greife nur einen heraus. „Und da die Menschen die Welt wie passive Wesen ‚empfangen‘, muss die Erziehung sie noch passiver machen.

Der erzogene Mensch ist der angepasste Mensch, denn er passt bestens in die Welt. In die Praxis übersetzt dient dieses Konzept in hervorragender Weise den Absichten der Unterdrücker, deren Ruhe davon abhängt, wie gut Menschen in die Welt passen, die die Unterdrücker geschaffen haben, und wie wenig sie sie in Frage stellen.“ Da wird gleichsam etwas anderes scharf in der Analyse als bei Ragaz, nämlich der Wille der Mächtigen, vermittelt durch eine Pädagogik, die ihnen dient, ihre Macht gewährleistet.

Fast zur selben Zeit wie dasjenige Freires trieb ein anderes berühmtes Buch die Diskussion über die Pädagogik um; ich meine die Entschulung der Gesellschaft von Ivan Illich. Es ist vielleicht nicht unbedeutend, wie wenig (bis gar nicht) der ehemalige Priester Illich von Gott spricht. Viel wichtiger aber ist, dass Illich Erfahrungen, die zwar auch aus einem Kontext der Dritten Welt herstammen, noch stärker als Freire gleichsam zurückholt in den Zustand einer Gesellschaft überhaupt und damit das, was die „Unterdrücker“ zum Unterdrücken bewegt noch allgemeiner formuliert: „Indem die Schule die Notwendigkeit lehrt, belehrt zu werden, bereitet sie auf die entfremdende Institutionalisierung des Lebens vor.

Haben die Menschen diese Lektion einmal gelernt, so verlieren sie jeden Anreiz, in Unabhängigkeit heranzuwachsen …“ Und wenig Seiten später bringt es Illich so auf den Punkt: „Solange wir uns nicht des Rituals bewusst sind, durch das die Schule den fortgeschrittenen Verbraucher - die wichtigste Stütze der Wirtschaftsordnung- gestaltet, können wir den Bann dieser Wirtschaftsordnung nicht brechen.“

 

Und heute?

Damit sind wir aus dem Historischen sehr nahe ans Heutige geraten; denn heute zeigt sich das, was Illich 1970 schon benannte, die „Wirtschaftsordnung“ und die „fortgeschrittenen Verbraucher“, noch einmal deutlicher als die neoliberale Weltpolitik des entfesselten Kapitals, die uns in der Zwischenzeit weismachen will, die Marktgesetze seien eine Art Naturnotwendigkeit. Ragaz spricht immer wieder von Götzen, insbesondere dem Mammon, hinter denen Gott gleichsam verschwunden ist. Die Situation hat sich wohl insofern verschärft, als einerseits auch fortgeschrittenste Verbraucher je nach dem auch unbrauchbar werden können und dass es andererseits keine Götzen mehr im Plural gibt, sondern nur noch den einen, der sich selbst als die allein faktische Wirklichkeit erklärt. Zugedeckter scheint das andere „Reich Gottes“ noch nie gewesen zu sein.

Doch zurück zur Pädagogik und auch zur berühmten und keineswegs obsolet gewordenen Frage „was tun?“. Es ist eindeutig so, dass Analyse des „Systems“ im Sinne Ragaz‘ dringlicher ist denn je! Denn heute scheint ja gar nichts am „Zerfallen“ zu sein. Man müsste deshalb genau hinschauen, was für Forderungendas „System“ heute an die Pädagogik richtet. Wahrscheinlich wäre es für die Linke eine Aufgabe, z.B. anhand von Zürichs verschiedenen Anläufen zu einer sogenannten Reform der Schule in den genauen Abläufen des Vorpreschens und Zurückkrebsens eines Mannes wie Ernst Buschor, in der Art und den Motiven des Widerstands von ganz verschiedenen Seiten systematisch analytisch nachzulesen, was hier auf den verschiedensten Ebenen, vor allem auch auf der symbolischen, gespielt wird. Dann würde man genau erfahren, was genau jetzt das System für einen Typus der Erzogenen anfordert und warum. Sicher ist nur, dass unter dem Vorwand der permanenten Erneuerung wohl schon nicht mehr der „fortschrittlichste Verbraucher“ für die neoliberale Weltpolitik erforderlich ist, sondern wahrscheinlich immer mehr einer und eine, die gleichsam je schon virtuell bereit sind immer wieder der oder die Andere, und zwar möglichst flexibel zu werden, der oder die von Fall zu Fall gebraucht werden könnte – oder eben auch nicht. Ein Menschentyp also, der gar nicht mehr bockig sich fragen kann, wer er oder sie und in Bezug auf Andere sei, um von daher widerständig von genau den Systemen, die ihn oder sie ausgebildet haben, und von den Systemen, in denen er oder sie auf Zeit allenfalls brauchbar sein könnte, etwas einzufordern. Der alte unmenschliche Begriff vom zugerichteten „Menschenmaterial“ könnte so seine letzte, die virtuelle Bedeutung erlangen …

Vor ganz kurzer Zeit war Pierre Bourdieu hier in Zürich. So weit ich sehe, ist er heute, wenn nicht der einzige, so doch der bedeutendste Gesellschaftswissenschaftler, der in seinem ganzen Werk die verborgene Menschenproduktion neoliberaler Art durch alle Systeme der Ausbildung, der durchrationalisierten Pädagogik als Methode der Akkumulation nicht nur des ökonomischen, sondern auch dessen, was er die symbolischen Kapitale nennt, immer schärfer system-analytisch aufgewiesen hat. Bourdieu geht seit einiger Zeit einen politischen Schritt weiter, seit er mit seiner Equipe an den Abfallrändern der neoliberalen Welt die neue „misère du monde“ ortet, auch und gerade in der sog. Ersten Welt die in allen Vorstädten der Machtzentren Abgestellten nicht statistisch oder soziometrisch oder sonst wie registriert, sondern der Armut, und selbst die ist ja „neu“, zu ihrer eigenen Sprache verhilft.

Vielleicht ist das Unternehmen Bourdieu das heutige Projekt einer pädagogischen Revolution, gelandet wieder mal in einer Stunde Null des Elends. Sicher ist, dass Bourdieu in aller intellektuellen Exaktheit und einer eigenartigen Bescheidenheit weiß, dass wir für die Revolution jene brauchen, die, verstreut wie auch immer, anfangen zu verstehen, „einem unbestimmten Schicksal preisgegeben“ worden zu sein. So steht es im Appell „für die Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegungen in Europa“ von Pierre Bourdieu und Aktivistinnen aus verschiedenen sozialen Bewegungen. Allein schon die Formulierung lässt aufhorchen. An dem in der Roten Fabrik von mehreren hundert Personen besuchten Vortrag Bourdieus nahmen in der großen Mehrheit junge bis sehr junge Menschen teil. Nach meiner Einschätzung, sehr viele Studierende, die vom erhabenen Bildungshügel zur alternativen Fabrik hinunterkamen. Vielleicht besteht in absehbarer Zeit eine Chance, dass sozialer Widerstand und Widerstand in der pädagogischen Provinz wieder etwas miteinander zu tun haben könnten.

 

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